Hüfners Wochenkommentar: "Verzerrte Börsenreflexe"

huefner+martin+120x125.jpg

3. September 2015. MÜNCHEN (Assenagon). In den vergangenen Tagen wurde an den Börsen nicht nur viel Geld verloren. Es gab auch ein paar Entwicklungen, die nachdenklich stimmen. Schauen Sie sich das an: Am „schwarzen Montag“ stürz­te der DAX nach den Kursver­lusten der vorherigen Tage noch einmal um 600 Punkte nach unten. Er errei­ch­te beim tiefsten Stand ein Niveau, das 5 Prozent unter dem Level am Ende des letzten Jahres lag. Am Nachmittag verlangsamte sich die Abwärtsbewe­gung. Es war als ob der Markt wieder Luft schöpfen wolle.

An sich hätte man vermuten müssen, dass auf dem niedrigen Kursniveau jetzt wieder Käufe einsetzen sollten. Wie viele Anleger hatten sich in den vergangenen Wo­chen geschworen: Wenn der Index um 500 oder 1.000 Punkte fällt, dann sind die Aktien wieder so billig, dass man zugreifen muss.

Der Mini-Crash: Entwicklung des DAX seit Mitte Juli, jeweils Eröffnungs- und Schlusskurse
Huefner-Grafik-20150902.PNG
Quelle: Bloomberg

Und was geschah? Nichts, oder besser kaum etwas. Die Kurse erholten sich lediglich um ein paar Punkte. Nur an zwei Tagen ging es mit dem Index etwas stärker nach oben. Dann war schon wieder die Luft raus. Bis Ende Au­gust war beim DAX weniger als ein Drittel der vorhe­rigen Verluste aufgeholt. Siehe Grafik.

Das ist ungewöhnlich. Die Reflexe der Börse funktionier­ten nicht mehr. Die Kaufbereitschaft der Anleger stieg nicht, als die Kurse niedrig waren. Sie ging vielmehr zu­rück. Das widerspricht allen marktwirtschaftlichen Re­geln.

Nun soll man kurzfristige Bewegungen an den Börsen nicht überinterpretieren. Der Markt schießt manchmal Kapriolen, die mit Vernunft wenig zu tun haben. Zum Teil lag das Zögern der Anleger sicher daran, dass viele Händler noch im Urlaub sind und deshalb nicht zugreifen konnten. Das wird sich in den nächsten Wochen ändern.

Trotzdem lohnt es sich, sich die Sache etwas näher an­zusehen. Einige sagten, der „schwarze Montag“ sei die lang erwartete Trendwende. Wir stünden vor einer längerfristigen Talfahrt wie in den Jahren 2000 oder 2007. Da wäre es natürlich falsch zu investieren. Für diese These sind jedoch keine fundamentalen Gründe auszu­machen. Die Konjunktur in Europa läuft. Die Gewinne der Unternehmen steigen. Sie waren im zweiten Quartal so gut wie selten. Die Europäische Zentralbank stellt jeden Monat 60 Milliarden Euro zur Verfügung. Allenfalls in den USA könnte man angesichts der Diskussion über eine Zinserhöhung an eine Trendwende denken. Dort war der Einbruch der Aktienmärkte jedoch wesentlich geringer als in Europa. 

Ich vermute, dass hinter der Kursbewegung der letzten Tage etwas anderes steckt. Wir wissen seit langem, dass die niedrigen Zinsen und die hohe Liquidität Ver­zerrungen an den Märkten herbeiführen. Sie verändern das Verhalten der privaten Anleger. Zum Teil gehen sie mehr Risiken ein. Zum Teil klammern sie sich noch stär­ker an Spareinlagen. Institutionelle Investoren, auch Versiche­rungen, haben Ertragsprobleme. Der Banken­sektor steht unter Druck, weil die traditionelle Fristen­transformation entfällt.

In letzter Zeit gab es auch Spuren in der Realwirtschaft. Manche führen die anhaltend niedrigen Käufe von Ma­schinen und Ausrüstungen auf die durch die ultralockere Geldpolitik hervorgerufene Unsicherheit zurück. Es pas­siert also genau das Gegenteil, was nach Keynes zu erwarten war. Lockere Geldpolitik kurbelt die Nachfrage nicht an. Sie bremst sie.

Jetzt zeigen sich offenbar auch Folgen bei der Börsen­entwicklung. Investoren sind zunehmend über die unge­sunden Verhältnisse an den Märkten besorgt. Viele ha­ben den Eindruck, dass die Aktienkurse zu stark gestie­gen sind. Da will man nicht mehr kaufen. Der Kursrück­gang wurde von manchem sogar als Weg zur Gesun­dung der Verhältnisse begrüßt.

Wenn das richtig ist, dann ist es ein gravierender Be­fund. Aus der Krisenbekämpfung wird selbst eine Krise. Anhaltend niedrige Zinsen und hohe Liquidität führen nicht nur zu langsamerem gesamtwirtschaftlichen Wachstum. Sie werden in Zukunft auch die Börsenent­wicklung nicht mehr so begünstigen, wie das bisher der Fall war. Das zeigt sich jetzt bei Aktien. Es kann aber auch eines Tages auf die Zinsen niederschlagen. Wenn die Zentralbanken nicht selbst die Normalisierung der Verhältnisse auf den Finanzmärkten herbeiführen, dann tun es möglicherweise die Finanzmärkte. Letztlich wäre das aber nichts anderes als eine Art von Platzen der Blase (die sich dann aber hoffentlich in maßvollem Tem­po vollzieht).

Ich halte es unter diesen Umständen für dringend nötig, dass die US-amerikanische Notenbank so bald wie möglich mit der Erhöhung der Leitzinsen beginnt – nicht trotz der schwachen Börsen sondern gerade wegen ihnen. Nur auf China und die anderen Schwellen- und Entwick­lungsländer muss man aufpassen. Dort lauert Crash-Po­tenzial – freilich weniger für die Industrieländer als für die betroffene Region selbst.

Für den Anleger

Man soll aus kurzfristigen Entwicklungen nicht zu weit gehende Schlussfolgerungen ziehen. Es kann mit den Kursen bald auch wieder nach oben gehen. Viel deutet aber darauf hin, dass es kritischer wird an den Finanz­märkten. Schalten Sie daher bei den Risiken einen Gang zurück. Es macht keinen Sinn, sich völlig aus den Aktien zurückzuziehen. Sonst sind alle Chancen auf Er­träge dahin. Aber reduzieren Sie den Anteil dieser As­set-Klasse. Und wählen Sie bei Aktien die Unterneh­men, die eine Dividende zahlen, die über ein tragfähiges Ge­schäftsmodell verfügen und solide finanziert sind. Ich könnte mir hier auch Blue Chips aus der Schweiz vor­stel­len.

Deutsche Börse AG, 2. September 2015.

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011).

Dieser Artikel gibt die Meinung des Autors wieder, nicht die der Redaktion von boerse-frankfurt.de. Sein Inhalt ist die alleinige Verantwortung des Autors.