Hüfners Wochenkommentar: "Sand im Getriebe des Arbeitsmarkts?"

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Hüfner

3. Juni 2015. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Bisher war die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts eine Erfolgsgeschichte par excellence. Seit dem Höhe­punkt der Finanzkrise 2008 hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten um fast drei Millio­nen erhöht. Die Arbeitslosenquote ist trotz des schwachen Wachstums und trotz der Zuwanderer aus dem Ausland auf unter 6,5 Prozent zurückgegangen. Davon können andere nur träumen. Kein anderes größeres Indus­trieland kann eine solche Bilanz aufweisen. Nicht zu unrecht sprechen viele von einem „Arbeitsmarktwunder“.

Jetzt aber scheint Sand ins Getriebe zu kommen. Seit 2012 geht die Arbeitslosigkeit nur noch verlangsamt beziehungsweise gar nicht mehr zurück. Das ist überra­schend. Was passiert da? Ich habe den Verdacht, dass dies nicht nur eine vorübergehende Unpässlichkeit ist, sondern dass dahinter ein grundlegender Wandel steht.

An der Konjunktur kann es nicht liegen. Das gesamtwirt­schaftliche Wachstum betrug 2014 1,6 Prozent. In diesem Jahr wird es vermutlich noch etwas höher sein. Das ist mehr als allein durch die Zunahme der Produktivität dar­gestellt werden kann. Die Unternehmen brauchen neue Mitarbeiter.

Es liegt auch nicht daran, dass sie sich zu wenig darum bemühen. Im ganzen Land suchen Unternehmen derzeit händeringend nach Fachkräften. Manche führen flexible Arbeitszeitmodelle und Heimarbeit ein, um mehr Frauen als Mitarbeiter zu gewinnen. Es werden Kindertagesstät­ten angeboten. Unternehmen werben auch um mehr ausländische Arbeitskräfte.

Könnte es sein, dass mit 6,5 Prozent ein natürlicher Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit erreicht ist? Jeder Arbeitsmarkt braucht zum ordentlichen Funktionieren erfahrungsge­mäß eine gewisse Reserve von Erwerbslosen. Im Struk­turwandel fallen Angebot und Nachfrage nach Arbeits­plätzen regional häufig auseinander. Arbeitnehmer erfül­len zum Teil nicht die Qualifikationen, die benötigt wer­den. Manche wollen aus privaten Gründen eine Auszeit nehmen. Eine totale Vollbeschäftigung gibt es nicht.

Aber die derzeitige Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch, um allein damit erklärt werden zu können. Kaum einer wird sich erinnern, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland über viele Jahre schon einmal bei 1 Prozent und darunter lag. Das war in den 60er bis Anfang der 70er Jahre (siehe Grafik). Gemessen daran wäre also noch viel Luft nach unten.

Arbeitslosenquote hat noch Luft nach unten
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West-Deutschland, Quelle: Bundesbank

Natürlich hat sich die Welt seitdem geändert. In vielen Bereichen sind die Qualitätsanforderungen gestiegen. Manch einer hat durch die Erfahrung langer Arbeitslosig­keit Qualifikation verloren. Zum Teil ist der Druck zu ar­beiten durch den Ausbau der Sozialsysteme nicht mehr so groß. Die Bereitschaft, für einen Arbeitsplatz umzu­ziehen oder lange Wege in Kauf zu nehmen, hat vielfach abgenommen.

All das bewirkt, dass die untere Grenze der Arbeitslo­sen­quote heute nicht mehr so niedrig ist, wie sie einmal war. Aber 6,5 Prozent sind eindeutig zu viel. Das zeigen auch inter­nationale Vergleiche. In der Schweiz beispielsweise ist die Arbeitslosenquote mit 4 Prozent trotz der starken Auf­wer­tung des Frankens deutlich niedriger. Japan hat so­wieso traditionell eine geringere Rate.

Die Erklärung der immer noch hohen Arbeitslosigkeit liegt woanders. Wir treten in eine neue Phase des Ar­beitsmarkts ein. Ein weiterer Rückgang der Arbeitslosig­keit ist zwar möglich. Er erfolgt aber nicht mehr quasi automatisch, sondern ist nur zu höheren Kosten zu er­reichen. Die Unternehmen müssen mit Löhnen und Ge­hältern um zusätzliche Arbeitnehmer konkurrieren. Das hat nichts mit falscher Wirtschaftspolitik oder Radikalins­kis in den Gewerkschaften zu tun. Es ist der ganz nor­male Preismechanismus. Wenn die Nachfrage nach Ar­beit steigt und das Angebot konstant bleibt, dann muss sich der Preis erhöhen. Wenn die Löhne nicht steigen, gibt es Streiks. Erste Zeichen dafür sehen wir schon.

Das ist für die Unternehmen ärgerlich. Für die Gesamt­wirtschaft hat es – wenn die Lohnsteigerungen sich in Grenzen halten – aber auch sein Gutes. Die Wirtschaft kann trotz rückläufiger Bevölkerung weiter expandieren. Mehr Menschen bekommen einen Arbeitsplatz und pro­fitieren vom Wachstum. Das verfügbare Einkommen nimmt zu, was dem Konsum hilft. Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung, die in letzter Zeit ein immer wich­tigeres Thema wurde, geht zwar nicht zurück. Sie wird sich aber weniger verschärfen.

Auf lange Sicht kann man sogar noch weitergehende Schlussfolgerungen ziehen. Wenn die Löhne stärker steigen, dann wird sich die Inflation auch ohne geldpo­litische Lockerungen normalisieren. Die Zinsen werden sich wieder erhöhen. Die anomale Situation an den Ka­pitalmärkten wird zu Ende gehen. Deutschland bräuchte nicht so viel Zuwanderer aus dem Ausland. Das täte dem gesellschaftspolitischen Klima gut.

Freilich geht dies nicht von heute auf morgen. Es dauert eine Weile, bis sich dies so entwickelt. Aber wichtig ist, dass die Richtung stimmt.

Für Anleger

Wenn sich das Knappheitsverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zugunsten der Arbeit verändert und die Löhne stärker steigen, ist dies für Investoren am Kapital­markt zunächst keine gute Nachricht. Die Renditen ge­hen relativ zu den Löhnen zurück. Das wird die Aktien­kurse dämpfen. Freilich muss man das Gesamtpaket se­hen. Börsen profitieren auch von der Normalisierung der anderen Variablen.

von Martin Hüfner, Assenagon
© 20. Mai 2015

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011).